Wieso ist die Sünde so oft ein Thema in der Kirche? Was hat die Kirche davon, Menschen ständig an ihre Sündhaftigkeit zu erinnern? Diese Fragen kommen in Gesprächen mit der Pfarrerin sehr oft vor.

Ich denke, es gibt eine Rede von der Sünde, die die Menschen schwächt und eine, die die Menschen stärkt. Zu der ersten hat niemand das Recht, aber die zweite nur wegzulassen, weil man mit der ersten schlechte Erfahrungen gemacht hat, wäre Schade und ein Verlust. Wenn die Rede von der Sünde nur dazu dient, dass Menschen sich wertlos und hilflos fühlen, dann ist sie ein Machtmißbrauch – egal ob die Kirche oder jemand anderer das tut. Wer sich schuldig fühlt, lässt sich leichter unterdrücken, macht vieles mit, was er sonst nicht machen würde. Diesen Mechanismus auszunutzen ist der Kirche nicht würdig und hoffentlich kommt es auch immer seltener vor.

Es gibt aber auch einen anderen Grund, warum in der Kirche die Sünde immer wieder ein Thema ist und im sonntäglichen Gottesdienst einen festen Platz hat. Das Gefühl, nicht genug zu sein, nicht genug getan zu haben ist nämlich etwas ganz Menschliches. Sogar in einer Zeit, wo kaum noch Tabus sind und fast alles in der Gesellschaft toleriert wird, ist dieses Gefühl nicht ausgestorben. In bestimmten Situationen gibt es kaum die Möglichkeit, sich nicht schuldig zu fühlen. Früher hat man hier oft an Sexualität gedacht, zum Glück ist heute das Verhältnis zu diesem Thema sogar in der Kirche viel weniger verkrampft und steht nicht mehr so im Mittelpunkt.

Heute ist das Thema, wo Schuldgefühle kaum zu vermeiden sind, die zu nähernde Klimakatastrophe und damit ganz eng verbunden die wirtschaftliche Ungerechtigkeit auf globaler Ebene. So wie wir in Österreich leben, verbrauchen wir mehr als doppelt so viele Ressourcen pro Jahr, als es uns „zusteht”. Wir sollten viel weniger kaufen, viel weniger Dienstleistungen in Anspruch nehmen, damit die Erde nicht noch mehr ausgelastet wird, als jetzt schon. Schifahren zum Beispiel, die unantastbare und identitätsstiftende Freizeitaktivität in Österreich steht auch nicht so gut da, wenn wir die Umweltauswirkungen betrachten. Doch, was ist, wenn jetzt plötzlich das ganze Land zur Einsicht kommt, sich ändert und nur noch das Lebensnotwendige kauft, statt zu Kaufen Dinge repariert und nur Slow Tourismus in Anspruch nimmt – also extrem umweltbewußt lebt? Nach 8 Wochen Ausgangsbeschränkungen wissen wir, was dann passiert: die Wirtschaft jammert und Menschen verlieren ihren Job massenweise. Der Lebensstil, der die Erde zerstört, sichert Menschen den Lebensunterhalt. Es gibt keine gute Wahl, es gibt keine Lösung, die nur positive Seiten hat. Wenn es diese gäbe, wäre alles so viel einfacher!

Oder ein anderes Thema, das auch genug Platz für Schuldgefühle bietet: das Elternsein. Ist man voll und ganz bei dem Kind und richtet das Leben nach seinen Bedürfnissen, ist man sicherlich nicht der Vorzeigearbeitnehmer, der immer zu Überstunden bereit ist. Ist man mit voller Begeisterung bei der Arbeit und tut alles für die Firma, wird es sicher vorkommen, dass die Kinder statt liebevoll gekochtes Abendessen nur Tiefkühlpizza bekommen und viel Mehr Bildschirmzeit haben, als es für die Entwicklung des Kindes ideal wäre. So kommt es, dass Menschen dieses Gefühl haben, nicht genug zu sein.

Es ist verdammt schwer, fast unmöglich, so zu leben, dass man denkt: ich habe alles richtig getan, ich habe nichts versäumt. Wenn es so ist, gibt es mindestens zwei Möglichkeiten. Man kann dieses Gefühl ignorieren und so tun, als wäre alles halb so schlimm. Wenn es so funktioniert, ist alles bestens. Menschen, die das so nicht können, die dieses Gefühl, diese unzufriedene innere Stimme nicht von allein loswerden können, brauchen aber Hilfe. Oft ist es hilfreicher zu hören: es ist okay, nicht perfekt zu sein, als so zu tun, als wäre man perfekt. Die Kirchen haben genau dafür einen guten Rahmen. Im Gottesdienst gibt es eine Stelle, wo man bekennen kann, wenn man sich nicht genug fühlt, wenn man versagt hat. Und jedes Mal kommt dann der Zuspruch: Gott nimmt dich so an, wie du bist. Du brauchst nicht perfekt zu sein, du bist liebenswert, wie du bist. Im Gottesdienst bekennen wir unsere Grenzen gemeinsam – das hat noch einen Mehrwert. So weiß ich nämlich, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin. Ich bin nicht schwächer und weniger, als die anderen. Wir alle kämpfen mit dem Gefühl, nicht alles geschafft zu haben, was wir wollten und was wir richtig halten würden.

Schuld zu bekennen und überhaupt, die Sünde zu thematisieren hat also das Potenzial, einen Menschen zu stärken statt ihn zu verunsichern. Meine Erfahrung ist, dass Menschen, die den Umgang mit Schuld und Sünde entkrampft haben, die bereit sind, ihre Grenzen einzugestehen und sich trotzdem liebenswert finden, werden nicht mehr Opfer von Organisationen oder Personen, die in einem Schuldgefühle wecken wollen.

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